Business Bambule: Test Mercedes-AMG E 63 S 4Matic+ mit technischen Daten, Marktstart und 0-100 km/h-Zeit
Testbericht
Portimao (Portugal), 30. November 2016 - Es sind die einfachen Dinge, die das Leben schöner machen? Papperlapapp. Das war vielleicht irgendwann mal so. In einer analogen Welt, weit vor der heutigen. Wo Autos wie der Mercedes E 63 vor allem drei Dinge benötigten: Mehr Hubraum als ein völlig aus dem Ruder gelaufener Oktoberfestbesuch, einen Klang, der ganze Wohnsiedlungen niederstreckt und einen Heckantrieb, der mehr Rauch produziert als Hugo-Egon Balder nach einem Übersee-Flug. Heute allerdings sind die Dinge viel komplizierter. Simple Lösungen gibt es nicht mehr. Was passiert, wenn man sich für die simple Lösung entscheidet, kann man gerade auf der anderen Seite des Atlantiks bestaunen. Dort darf ein bemerkenswert frisierter Milliardär in den nächsten Jahren zusehen, wie er die USA, China, den mittleren Osten und Europa unter einen Hut bringt. Und schon ist die Brücke zum neuen E 63 geschlagen. Ich befürchte nur, der Benz ist wesentlich besser vorbereitet.
Wild, aber sicher
Jawohl, der moderne Durchschnitts-Vermögende von Welt will ein möglichst komfortables, sparsames und vernetztes Rennauto für jeden Tag. Viel Rambazamba, möglichst idiotensicher zu fahren. Sprich: Es soll den eigenen Hintern nicht gleich im nächstbesten Graben versenken, wenn der rechte Fuß mal wieder zu motiviert war, aber die freie Wahl, wieviel Blödsinn man mit seinem überpotenten Business-Rambo anstellt, mag man auch nicht aus der Hand geben. In diesem Sinne: Herzlich Willkommen beim neuen Mercedes-AMG E 63 S 4Matic+. Über 600 PS, Allradantrieb, eingebauter Driftmodus - Herz, was willst du mehr.
Gleiches Hightech-Paket
Weil es sich bei ihm wenig überraschend ebenfalls um eine E-Klasse handelt, können wir das mit dem Komfort und der Vernetzung und dem "jeden Tag" schnell abhaken. Er hat Tonnen davon. Auch er fährt von allein, man wohnt ganz großartig in ihm, die riesigen Displays, das ganze Carbon und die (optionalen) Schalensitze sind der Wahnsinn, alles gut.
Von außen erkennt man höchstens Anflüge des nahenden Irrsinns. Ein bisschen mehr Auspuff, Diffusor und Spoilerchen hinten, ein bisschen mehr Lufteinlass, Motorhaube und Kotflügel vorne, dazu ein Satz stattliche Felgen - das wars auch schon mit der optischen Aggressivierung. Ziemlich potent sieht der neue E 63 trotzdem aus. Der Begriff "German Muscle” trifft es wohl ganz gut.
Buiness-Renntechnik
Das Sympathische an der Sache ist: Unterm Blech passieren sehr viele gute Dinge, die man von außen nicht sieht. AMG hat der E-Klasse nicht einfach einen lächerlich starken Motor und den Klang der Hölle implantiert (das auch), sie haben einen Business-Rennwagen gebaut, der dem M5 endlich auch querdynamisch zeigen soll, wo`s langgeht. Unter einer massiv verstärkten Karosserie sitzen neue und breitere Achsen (vorne wächst der 63er daher um 34 Millimeter in die Breite) sowie eine deutlich AMG-isierte Dreikammer-Luftfederung. Dazu gibt es optimierte Radträger, steifere Buchsen, mehr Negativ-Sturz, 20-Zöller mit Michelin Pilot Supersports und gigantöse 390er-Stahlbremsen (gegen Aufpreis kriegt man auch 402-Millimeter-Keramik-Familienpizzen). Sehr seriöses Equipment also. Genau wie die dynamischen Motorlager, die sich je nach Fahrmodus (Individual, Comfort, Sport, Sport Plus, Race) sukzessive versteifen. Denn wenn der große Kasten ganz vorne drin sich weniger bewegt, wankt auch der Rest des E 63 weniger umher. Sie kriegen die Idee dahinter, nehme ich an ...
Vierliter-V8 deutlich stärker
Apropos Motor: Weil es im Jahr 2016 ganz wichtig ist, dass Performance-Limousinen CO2-Werte wie ein Kompaktsportler haben, während sie auf der Geraden jedes Supercar zermalmen, ersetzt AMGs großartiger 4,0-Liter-Biturbo-V8 auch im neuen E 63 den guten alten 5,5-Liter-Doppelturbo. Im S-Modell leistet der "Downsizer" schockierende 612 PS und 850 Newtonmeter (es gibt auch eine Nicht-S-Version mit 571 PS). Das sind 27 PS mehr als bisher. Das sind auch 102 PS und 150 Newton mehr als im AMG GT S. Schuld sind zwei neue und größere Twinscroll-Turbos, neue Kolben, ein optimiertes Ansaugsystem, größere Ladeluftkühler und ein wenig Fummelei an der Motorelektronik. Falls Sie noch nicht überzeugt sind - eine Zylinderabschaltung ist nun ebenfalls dabei. Sogar mit kleinem "Emoticon", das Ihnen im Zentraldisplay anzeigt, ob Sie gerade mit acht oder vier Zylindern unterwegs sind. Hurra.
Jenseits von Gut und Böse
Weil sich die Hinterachse vermutlich schon beim Blick aufs Datenblatt vor Furcht übergeben müsste, überträgt die neue und auf Doppelkupplungs-Niveau schaltende Neungang-Speedshift-Automatik all den Irrsinn jetzt grundsätzlich an alle vier Räder. Dieser Umstand sorgt für geradezu groteske Fahrleistungen. 0-100 km/h? 3,4 Sekunden! In einer Fünf-Meter-Zwei-Tonnen-Limousine. Herr im Himmel. Das Absurde ist: Es fühlt sich deutlich schneller an. Das Level an Vorwärtsdrang ist hier wirklich nur noch schwer zu begreifen. Ansprechverhalten, Drehlust? Gefühlt noch ein Stockwerk über dem großartigen C 63. Turboloch, Leistungsentfaltung? Begriffe, die den neuen E 63 nicht zu interessieren scheinen. Dieser Benz kommt ohne Verzögerung aus dem Knick, spricht ungewöhnlich rabiat auf Gasbefehle an (beides Verdienste der neuen Twinscroll-Turbolader) und reißt seinen Drehzahlmesser in der Folge einfach in Stücke. Wer die schicken Alu-Schaltpaddles von Hand bemüht, kommt mit dem Schalten kaum noch nach. Einmal wurde ich beim spontanen Durchtreten des Gaspedals beinahe stranguliert, weil mein Sitzgurt bei der Gewalt der nachfolgenden Beschleunigung offenbar von einem Unfall ausging und sich maximal straffte. Einen eindrucksvolleren (und leicht schrägen) Potenzbeweis kann es wohl kaum geben.
Mutierte Wildschweine
Was dieser V8 abzieht, ist verblüffend, beängstigend und unglaublich wundervoll. Er gehört in der All-Time-Turbomotoren-Hitliste mindestens unter die Top-Drei. Auch und zu großen Teilen wegen dem, was ihm so an Tönen entfleucht: Gefühlt hat AMG seiner Achtzylinder-Allzweckwaffe noch mehr Charakter und Exzess eingehaucht. Schon in "Comfort" stellt sich wohlig-warmes Affalterbach-Timbre ein. Bassig kreissägend, mit einem kleinen Hauch Wahnsinn, aber noch sozialverträglich. In "Sport Plus" klingt der E 63 dann, als würde unter seiner Kofferraumklappe eine Horde mutierter Wildsäue in den Krieg ziehen. Wem es hier nicht permanent die Mundwinkel nach oben zieht, der hat vermutlich keine.
Extremer als erwartet
Fahrverhalten? Dito. Wer die normalen E-Klasse-Varianten kennt, weiß, dass Sportlichkeit hier sicher nicht ganz oben auf der Liste steht. Umso bemerkenswerter ist es, was die schlauen AMG-Köpfe mit all ihren Änderungen bewirkt haben. Der neue E 63 fühlt sich viel ambitionierter, renniger, gefühlsechter an als erwartet. Die Lenkung, die Vorderachse - sie teilen sich mit, sind umtriebig, feinsinnig, ein bisschen hart und herzlich. Wie sagte AMG-Botschafter und DTM-Ikone Bernd Schneider so schön beim Abendessen: "Früher stand AMG intern ja immer für `Alles mit Gewalt`, aber das ist jetzt vorbei." Der aktuelle AMG-Chef Tobias Moers ist Fahrdynamiker durch und durch und das merkt man immer mehr. Hier wurde überraschend extrem auf Agilität getrimmt und das Ergebnis macht fast ein wenig sprachlos. Klar, in "Comfort" kann er (halbwegs) leise, kultiviert, bequem. Aber drehen Sie den 63er auf "Sport Plus" oder "Race" und er macht Dinge, die Schlachtschiffe dieser Größe nicht können sollten. Vor allem keine E-Klassen. Nicht in der Vergangenheit zumindest. Er schrumpft komplett unter dir zusammen, will gierig ums Eck. Ich bin seit zwei Jahren keinen M5 mehr gefahren, aber das hier wirkt tatsächlich direkter, leichtfüßiger.
Allrad keine Spaßbremse
Und das neue Allradsystem? Heißt jetzt 4Matic+ und ist erstmals vollvariabel. Bitte liebe AMG-Fans, sehen Sie es nicht als Spaßbremse. Auch ich bin der Meinung, dass es bei AMG immer auch um Krawall und Übersteuern gehen sollte, aber hier macht der Vierradantrieb wirklich Sinn. Und in diesem Fall hat AMG tatsächlich eine ziemlich feine Mischung aus Beherrschbarkeit und Irrsinn gefunden. Will heißen: Im Zusammenspiel mit der elektronischen Hinterachs-Differenzialsperre hilft er dem Auto, wenn man es braucht, lässt einen aber spielen, wenn man es will. AMG sieht seine Business-Limousine durchaus auch auf der Rennstrecke und selbst wenn es nicht allzu viele Kunden geben dürfte, die sich mit dem E 63 dorthin verirren werden - wenn es doch mal passiert, dann keine Bange, es funktioniert überraschend gut: Die Traktion und die Stabilität beim Bremsen sind gigantisch, hier wankt und rollt erschreckend wenig und wenn Sie untersteuern, liegt es mehr an Ihnen als am E 63. Er fühlt sich mehr nach Heckantrieb an, lässt sich am Gas (und mit ein wenig Provokation) durchaus mal dazu überreden, seinen großen Hintern rutschen zu lassen. Die Balance ist hervorragend, spaßig, lässt einen RS 7 durchaus etwas plump erscheinen.
Neuer Drift-Modus
Und wenn Sie sich aufführen wollen wie ein kompletter Idiot, gibt es auch dafür Lösungen. Der neue E 63 verfügt nämlich über eine leicht debile Beigabe namens "Drift-Modus". Vier Knöpfe (Fahrmodus in "Race", Automatik auf manuell, ESP off, Schaltpaddle ziehen), und das durchtriebene Allradsystem sperrt Ihnen die komplette Vorderachse weg. Jetzt gehen 100 Prozent der Kraft an die Hinterachse und Sie können sehr unvernünftige Dinge tun, die vornehmlich mit der Vernichtung von Reifen zu tun haben. Der E 63 ist also der erste Teilzeit-Hecktriebler der Welt. Er vereint Sinn und Unsinn wie selten zuvor. Er ist ein erschreckend starkes, erschreckend komplettes und - vor allem - ein erschreckend dynamisches Auto geworden. Schwächen? Schwierig. Er ist wirklich sehr sehr gut. Die Bremse ist womöglich der einzige Koloss-Indikator, weil es mit so viel Kraft und Gewicht einfach nicht so leicht ist. Aber das ist eher ein Rennstrecken-Problem. Auf der Straße sollten Sie sich damit abfinden, dass er deutlich straffer und unbarmherziger ist, als alle anderen E-Klassen, aber das ist alles im Rahmen. Und natürlich ist er bei aller Güte kein Lotus oder Porsche 911. Er bleibt eine große, schwere Limousine. Vermutlich aber die talentierteste und vielschichtigste, die man derzeit kriegt. Marktstart für den neuen Mercedes-AMG E 63 ist im März 2017. Preise stehen noch nicht fest.
Technische Daten
Antrieb: | Allradantrieb |
---|---|
Anzahl Gänge: | 9 |
Getriebe: | Automatik |
Motor Bauart: | V-Motor, Biturbo |
Hubraum: | 3.982 |
Anzahl Ventile: | 4 |
Anzahl Zylinder: | 8 |
Leistung: | 450 kW (612 PS) bei UPM |
Drehmoment: | 850 Nm bei 2.500-4.500 UPM |
Fazit
Der neue Mercedes-AMG E 63 ist ein ziemlich gutes Beispiel für die rasante Entwicklung der Technik. Er vereint Dinge, die noch vor ein paar Jahren als ausgeschlossen galten. 1.000 Kilometer bequem am Stück (und halbautonom)fahren? Schneller beschleunigen als ein Supercar? Sogar auf der Rennstrecke funktionieren? Das Ganze noch hochemotional, aber sehr luxuriös? Es klingt verrückt, aber es klappt. Natürlich merkt man hin und wieder das Gewicht, aber meistens hat es AMG sehr gut kaschiert. Schwächen? Wenig! Vergessen Sie die knapp neun Liter Normverbrauch und plündern Sie schon mal das ganz große Sparschwein. Ansonsten gilt: Das hier ist momentan wohl wirklich die beste Performance-Limousine, die es gibt.
+ Unfassbar kräftiger, williger V8; glorreicher Sound; überraschend hohe Agilität; Drift-Modus; so gut wie keine Einbußen beim Komfort; haben wir den Sound erwähnt?
- noch immer ein großes, schweres, durstiges Auto; vermutlich sehr hoher PreisTestwertung
Quelle: auto-news, 2016-11-29
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