19. Januar 2016
Haar, 19. Januar 2016 - Immer wieder beschließen Menschen zum Jahreswechsel, etwas zu verändern. Sie zwingen sich Neujahrsvorsätze auf und verzichten meist auf irgendwelche Genussmittel. Wie lange? Nun ja, eben so lange, wie sie können
oder es für nötig halten. Auch Land Rover übt sich seit dem 2015-auf-2016-Wechsel in Verzicht: Der britische Hersteller legt nach 67 Jahren das eigene Gründungs- und Urmodell auf Eis. Verehrte Damen und Herren, der Defender - der von 1948 bis 1990 einfach nur Land Rover Serie I, dann II und schließlich III hieß - ist mit sofortiger Wirkung Geschichte. Ob wir es nun wollen oder nicht. Mehr als Grund genug, noch eine letzte Abschiedstestfahrt mit dem urigen Geländegänger des vorerst letzten Modelljahres 2015 zu unternehmen.
Roh, unausgegoren, pur und völlig anders
Er ist roh, unausgegoren und pur und damit so völlig anders als alles andere auf dem Fahrzeugmarkt des 21. Jahrhunderts. Vor 30 Jahren sah das noch ganz anders aus: Damals war der Defender auf Augenhöhe mit der Mercedes G-Klasse. Doch bei Benz entschied man sich den G zu einem technisierten Luxus-Geländekasten mit Bundeswehr-Lebenslauf zu mausern. Der Defender blieb dagegen reaktionär in seinem Modernisierungsverhalten. Wenn der Gesetzgeber mit dem Aus drohte, weil irgendetwas nicht mehr zeitgemäß war, wurde dieser Gefährdungspunkt abgeändert, um den Fortbestand zu sichern. Und deshalb ist der Defender heute quasi der Caterham unter den Geländewagen. Er hat kaum Technik, er sieht aus, als käme er als Zeitreisen-Gesandter der Großeltern-Generation und genauso fährt er sich auch.
Technische Daten einer Landmaschine
Der 2,2-Liter-Vierzylinder-Diesel erreicht zwar eine Leistung von 122 PS und verteilt 360 Newtonmeter über ein manuelles Sechsgang-Getriebe an alle vier Räder, doch der Motor arbeitet nicht leise wie ein modernes Selbstzünder-Aggregat, nein, er ist laut, er nagelt unaufhörlich und ab 3.500 Umdrehungen geht ihm die Puste aus. Auch die Schaltung macht bei jedem Gangwechsel gewöhnungsbedürftige Geräusche. Trotzdem schafft es der Antriebsstrang, die 110-Station-Wagon-Version mit sieben Sitzen und einem Leergewicht von über 2,1 Tonnen in rund 17 Sekunden die Tempo-100-Marke überwinden zu lassen. Schluss ist bei 145 km/h.
"Neumodische" Komfortfeatures? Ja, die gibt es ...
Aber ob Sie mit der Aerodynamik eines Schuhkartons und der Stabilität eines Puppenhauses wirklich so schnell fahren sollten? Unsere Empfehlung? Nein. Warum? Nun ja, weil das Lenkrad schon ab 100 km/h besorgniserregend unruhig in der Hand liegt und weil man ab 120 km/h seine Stimme so stark erheben muss, dass am nächsten Tag ein mieses Halsweh droht. Doch ein ruhiger Wohlfühltempel ist der Innenraum sowieso nicht - obwohl die meisten "neumodischen" Komfortfeatures wie elektrische Fensterheber, Sitzheizung, Klima und Servolenkung an Bord sind. Es fehlt nämlich an einer angemessenen Sitzposition, an Kopf- und Beinfreiheit. So fühlt man sich eher wie in einem Smart Fortwo als in einem 4,79 Meter langen sowie 1,79 Meter breiten und 2,18 Meter hohen Geländewagen.
Warum muss es ein Defender sein?
Warum will man dann überhaupt einen Defender, wenn er laut, unbequem, langsam und verbrauchsstark ist? Wenn er sich wie ein Oldtimer fährt und man nicht einmal mit einem H-Kennzeichen bei den Steuern und den Versicherungsprämien sparen kann? Warum fährt der Zahnarzt von nebenan plötzlich einen und warum rät er dem Anwalt, sich auch einen zu kaufen? Warum will man eine handgefertigte Alukarosse, die schlechter verarbeitet ist als ein Bahnwaggon? Warum will man einen rostanfälligen Leiterrahmen und ein Fahrwerk, das auf zwei Starrachsen mit Schraubenfedern aufbaut und bereits bei langsam gefahrenen Kurven für Angstzustände sorgt? Weil es Liebe ist. Unvernünftige und unerklärliche Liebe - und weil man in der Freizeit vielleicht etwas Robustes und Perfektes fürs Gelände braucht?!
Im Gelände immer noch unschlagbar
Hier ist der Defender nach wie vor unschlagbar. Permanenter Allradantrieb, eine Mittendifferenzial-Sperre, eine Geländeuntersetzung und eine Bodenfreiheit von über 31 Zentimeter lassen den Defender eigentlich überall hinkommen. Wenn er irgendwo nicht hoch-, runter-, drüber- oder durchkommt, dann liegt das höchstwahrscheinlich nicht am Auto, sondern am fehlenden Mut oder am fehlenden Können des Fahrers. Im Gelände unterstützt uns außerdem die optionale Goodyear-Wrangler-MT/R-Bereifung, die auf schwarzen 16-Zöllern sitzt. Sie hat ein Profil, in dem ganze Vorgärten verschwinden könnten. Wenn Sie also von Off- auf Onroad wechseln und Sie keine Steinschlag-Orgien veranstalten möchten, bei denen anschließend Klagen auf Sie einhageln, sollten Sie über Gummimatten hinter den Radläufen nachdenken. Wenn Sie allerdings Ihren Defender nicht ins Gelände ausführen wollen - und der Großteil der verkauften Exemplare fristet nunmal so ein langweiliges Geländewagenleben - dann sollten Sie weder Gummimatten kaufen, noch auf MT/R-Bereifung unterwegs sein. Sie sollten überhaupt keinen Defender fahren. Sie sollten es sich in einem Crossover bequem machen.
Kaufen oder bleiben lassen?
Jetzt noch einen Defender zu kaufen, ist sowieso schon etwas spät. Die Produktion ist eingestellt. Einer der letzten Modernisierungsakte - die Einführung von ESP - hat nicht mehr gereicht, um ihn ins Modelljahr 2016 zu überführen. Schluss. Für immer. Ein unzureichender Fußgängerschutz und die Euro-6-Abgasnorm würden zu gravierende Eingriffe in die Defender-DNA bedeuten. Und weil das Angebot-und-Nachfrage-Prinzip die Preise um mehr als 20 Prozent hat steigen lassen, liegt der Einstiegspreis für einen "neuen" 110 Station Wagon nicht mehr bei "nur" 34.690 Euro, sondern deutlich darüber.
Quo vadis Defender?
Und wie geht es weiter? Ein vermeintlicher Nachfolger hat verdammt große Fußstapfen zu füllen. Doch vielleicht kommt der klassische Defender ja noch einmal zurück. Und zwar dann, wenn irgendein Investor beschließt, die Produktionslinie in Großbritannien zusammenzupacken, um sie in einem anderen Land der Erde wieder aufzubauen. In einem Land, in dem man noch keinen Wert auf Rosenduft-Abgase und Fußgängerschutz legt.