30. September 2011
Sant'Agata Bolognese (Italien), 30. September 2011 - Ein Auto, das in unter zehn Sekunden auf 100 km/h kommt, ist ein gutes Auto. Unser Wagen braucht 8,9 Sekunden - auf 200 km/h. Wir testen, was die 700 PS im neuen Lamborghini Aventador LP700-4 tatsächlich bringen.
Platten, Kanten, Ecken
Natürlich liegt er flach auf dem Asphalt, knapp 1,14 Meter ist der Aventador hoch. Und von hinten sieht er aus, als würde er sich extrem engagiert wie eine Glucke schützend über die Straße legen. Den Aventador erkennt jeder als Lamborghini: Diese Kombination aus Ecken, Kanten und Plattenlook gibt dem Wagen aus Norditalien sein einzigartiges Aussehen. Über zwei Meter Breite sorgen schon optisch für eine kaum zu übertreffende Straßenlage und die Karbon-Heckklappe mit der stufenförmigen Motorabdeckung aus Glas und die Rückleuchten im Propeller-Design lassen selbst den Einheimischen die Augen übergehen: Jeder dreht sich um, egal wie alt, egal ob Frau oder Mann. Bei unserem Fotostopp in der Nähe von Samone kommt eine Seniorin extra aus ihrem Haus, um schnell ein paar Fotos vom Wagen zu schießen.
Für Große
Erstmal in Fahrt, kann unser Aventador sein Äußeres wie ein kleiner Transformer verändern: Ab einer Geschwindigkeit von 70 km/h fährt am Heck ein ansonsten beinahe unsichtbarer, weil perfekt in die Karosserie integrierter, Spoiler aus. Und wenn es dem Motor zu heiß wird, stellen sich im hinteren Seitenbereich große Klappen auf, um kühlende Luft zur Verbrennungsmaschine zu leiten. In den Innenraum des Sportlers gelangen wir über eine extrem breite Schwelle. Sitzen wir im Auto, ist von dieser Schwelle nichts mehr zu sehen - den Panzerschrank-dicken Türen sei Dank. Diese öffnen sich nach oben, der innere Türöffnungs-Griff sitzt in der Schwelle und schwingt nicht mit hoch. Platz gibt es im Aventador auch für große Menschen - sowohl für den Kopf als auch für die Beine.
Plattenbau
Das Ledergestühl unseres Wagens gibt guten Seitenhalt für Beine und Rücken. Dabei bleibt es auch auf längeren Strecken recht bequem - wir steigen nach mehreren hundert Kilometern Fahrt nicht wie gerädert aus dem Lambo. Allerdings könnten wir uns für einen 350-km/h-Renner noch sportlichere Sitze vorstellen. Das Lenkrad ist schön klein und dick, die aus Fahrersicht dahinter angeordneten Metall-Schaltpaddles sehen zwar stylisch aus, drehen sich beim Lenken aber nicht mit. Auffällig: Der Blinkhebel hängt auf der linken Seite rekordverdächtig tief, bei uns in Kniehöhe. Allerdings gewöhnt man sich sofort daran und als störend empfinden wir das nicht. Das Armaturenbrett nimmt die Plattenbauweise der Außenhaut auf, die steil aufsteigende Mittelkonsole scheint sich der Platten-Front entgegen zu stemmen. Was niemandem verborgen bleibt: Die sensationelle Außenform des Lamborghini führt zu einer sensationellen Unübersichtlichkeit. Ohne die serienmäßige Rückfahrkamera geht gar nichts. Ihr Bild könnte ein bisschen hochauflösender sein und wenn die Sonne auf den Bildschirm scheint, ist kaum noch etwas zu erkennen.
Raketen-Startknopf
Die Navi-Bedienung sitzt in der Mittelkonsole und erinnert ein wenig an das MMI (Multi Media Interface) von Audi - schließlich gehören beide Marken zum VW-Konzern. Ebenfalls in der Mittelkonsole beheimatet: Der unter einer metallic roten Abdeckung verborgene Startknopf - dies erinnert an Raumfahrttechnik und soll uns wohl schon optisch auf den Schub vorbereiten, der uns gleich erwarten könnte. Die gesamte Kabine ist stimmig gestaltet, passt ausgesprochen gut zum Kleid des Italieners. Und die Verarbeitungs-Qualität liegt auf Audi-Niveau, kann sich also sehen lassen. Nur die Lüftungsdüsen sind ein wenig schmucklos geraten - Mercedes hat beispielsweise mit dem SLS AMG vorgemacht, wie solche Düsen zum Show-Objekt werden. Was wiederum passt: In den Gepäckschacht unter der Fronthaube passen mindestens zwei Flugzeugtrolleys.
Zweite Etage bitte
Was wir bei jeder Unebenheit merken: Der Aventador ist extrem steif. Das leichte Karbon-Chassis macht den Aufbau schön hart, was natürlich dem Fahrverhalten zugutekommt. Die Härte des Chassis wird vom Fahrwerk mit Pushrod-Aufhängung aufgenommen: Selbst beim hitzigen Kurvenzirkeln rund um Samone wankt der Italiener keinen Millimeter. Außerdem können wir auf der Mittelkonsole mittels zweier Drückknöpfe zwischen den Einstellungen "Strada", "Sport" und "Corsa" hin- und herschalten. Strada hilft uns, auch lange Strecken ohne zu brutales Geruckel durchzuhalten. Sport ist dann perfekt für die ambitionierte Spitzkehre und Corsa gibt den Insassen die ultimative Rennhärte. Selbstverständlich kuschelt sich der Aventador dicht an den Asphalt (Bodenfreiheit: zwölf Zentimeter), was dem Fahrer beim Befahren von Rampen Sorgen bereiten könnte. Zum Glück haben wir ein Hebesystem für die Vorderachse serienmäßig mit an Bord. Per Knopfdruck steigt die Bodenfreiheit vorne um fünf Zentimeter - womit auch das Abfahren auf tiefer gelegene Feldwege problemlos gelingt. Das Heben und Senken funktioniert während der Fahrt. Lenken lässt sich unser Sportwagen ausgesprochen präzise. Der Lenkwiderstand geht in Ordnung, könnte aber für einen Supersport-Boliden noch einen Tick härter ausfallen.
Kaum zu bändigen
Der Motor unseres Aventador liegt hinter uns: Zwölf Zylinder rotieren wie irre in insgesamt 6,5 Liter Hubraum. Schon das Anlassen ist ein Statement. Der Gasfuß steht auf der Bremse, wir klappen den kleinen roten Schutzdeckel hoch und drücken den Startknopf. Es brüllt. Das Vieh ist umgehend hellwach, schreit, dass es los will. Ein auch nur halbwegs leiser Start im morgendlich verschlafenen Wohngebiet ist nicht vorgesehen. Sobald die Maschine zum Leben erweckt ist, macht sie klar, wer hier den Chef gibt. 700 PS müssen irgendwie im Zaum gehalten werden. Die Leistung reicht für den Spurt von null auf 100 km/h in 2,9 Sekunden - unter drei Sekunden, ein Fabelwert für einen 1,5-Tonnen-Wagen. Maximal sind 350 km/h drin. Bei jedem Gasstoß haut der Aventador los - selbst notorischen Sportwagen-Fahrern gibt er noch einen Kick.
Heimlicher Raketen-Antrieb
Die vier Endrohre des Aventador werden mittig am Heck in einer riesigen trapezförmigen Blende zusammengefasst. Selbst wer drei Meter hinter dem Wagen vorbeigeht: Gibt der Fahrer gerade Gas, fegt ein kräftiger Abgaswind dem Fußgänger den Hosenstoff fest ums Bein. Im Triebwerk scheinen die Kräfte zu schlummern, die unseren Planeten im innersten zusammenhalten. Das Biest grollt kernig vor sich hin, gibt akustisch genaue Rückmeldung über seinen Gemütszustand. Feinste Pedalbewegungen reichen für einen ordentlichen Schub - und der Kick-down führt zu brutalem Kreischen und zu dem Gefühl, dass der Asphalt hinter den Rädern Wellen schlägt. Leute, die sich den Wagen nicht leisten können, also die meisten von uns, interessieren sich für den Verbrauch: 17,2 Liter fallen pro 100 Kilometer im Schnitt der Gier des Renners zum Opfer. Ironie an: Mit 398 Gramm CO2 pro Kilometer bleibt der Lambo unter der 400-Gramm-Schallmauer. Ironie aus.
Traktion und Neutralität
Wirklich gut: Die immensen Momente leitet der Aventador über seine breiten Gummiwalzen traktionsfrei in den Fahrbahn-Belag - dem Allradantrieb sei Dank. Der Vierradantrieb ist auch verantwortlich dafür, dass sich der Italiener in Kurven ausgesprochen neutral verhält. Unter- oder gar Übersteuern sind nicht drin. Selbst Anfänger werden mit dem Wagen ganz gut zurechtkommen - wenn sie sich von unten rantasten und erstmal schön im klangvollen Modus "Strada" bleiben.
Schaltung: eben ein Supersportler
Mit den 690 Newtonmeter Drehmoment des Zwölfzylinder-Motors muss ein automatisiertes Siebengang-Getriebe fertig werden. Dieses knallt die Gänge spürbar rein. Bei "Sport" und "Corsa" werden die Stufen noch weiter ausgedreht. Automatisierte Schaltgetriebe haben meistens einen sehr kleinen Freundeskreis. Der Grund: Sie nerven bis zum Anschlag. Das war beim alten BMW M5/M6 so, das ist beim Smart Fortwo so: Die Schaltvorgänge verlaufen unharmonisch oder schicken einen spürbaren Ruck der Länge nach durch den Wagen. Beim Aventador sehen wir das erstmals anders: Das Gängereinhauen passt zum Über-Sportler, verleiht ihm den letzten Schuss Bissigkeit und Charisma. Weichspülerei ist beim Aventador noch nicht angekommen - und das monströse Triebwerk hat in der Schaltung seinen passenden Partner gefunden.