24. Oktober 2014
Haar, 24. Oktober 2014 -
Es gibt Autos, die sind zu weit weg. Autos, die man einfach nie fahren wird, wenn man nicht gerade in Abu Dhabi einen Turm besitzt, oder eine Gas-Pipeline in Russland. Von mir aus auch 500 Wohnungen in bester Münchner Innenstadtlage. Auf jeden Fall sollte man viel von irgendwas besitzen, sonst wird das nichts. Der Mercedes S 65 AMG ist so ein Auto. Er ist viel zu groß und viel zu mächtig und überhaupt viel zu viel von allem. Bis auf diese völlig absurde G-Klasse mit sechs Rädern, ist er das Teuerste, was der Stern derzeit zu bieten hat. Der S 63 AMG ist unglaublich schnell und dabei unglaublich komfortabel und auch aus jedem anderen Blickwinkel ziemlich unglaublich, aber er hat nur acht Zylinder und deswegen wollen ihn manche Leute nicht. Wir leben in einer Welt, in der ein ultraflacher BMW-Sportwagen mit einem 1,5-Liter-Dreizylinder fährt und trotzdem gibt es den S 65. Immer noch. Ein Zwölfzylinder ist ein Statement, auch wenn er derzeit in etwa die soziale Akzeptanz eines Mantels aus Baby-Nerz genießt (und das, obwohl Daimler beim neuen S 65 den Verbrauch um gut 17 Prozent gesenkt hat. Woher kommt nur dieser Hass?). Und überhaupt: Was sind schon 80.000 Euro Aufpreis, wenn dafür dieser wundervolle V12-Biturbo-Schriftzug am Kotflügel prangt?
Viel Respekt. Oder ist es Angst?
Was man der Ober-S-Klasse allerdings wirklich lassen muss, ist, dass sie eine nicht zu verachtende Aura umgibt. Ein wenig zu viel Chrom für einen AMG. Felgen, die mehr nach Casino als nach Rennstrecke aussehen. Ein Interieur, dessen Prunk selbst den Sonnenkönig einschüchtern würde. Der S 65 sieht aus, als wäre der "kleine" Bruder mit der 63 am Heck volle Lotte in einen Bentley Mulsanne gekracht. Das wirkt. Ich weiß nicht, ob es an der schieren Karosserie-Wucht liegt, am Testwagenpreis von knapp 264.000 Euro oder an der gerade beschriebenen Aura, aber dieses Auto flößt mir eine kräftige Portion Respekt ein. Vielleicht sogar ein bisschen Angst. Dabei tut der Chef aller S-Klassen wirklich alles, um seinen Fahrer bestmöglich zu unterstützen. Dass der wirklich allerletzte Schrei an Assistenzsystemen und Fahrhilfen an Bord ist, brauche ich Ihnen wohl nicht extra zu erläutern. Die größte Hilfe ist - in Anbetracht der Fahrzeugausmaße und der vermuteten Kosten für diverse Karosserieteile samt Lack - jedoch die wunderbare 360-Grad-Kamera. Ohne diesen treuen Gefährten wäre ich in diversen Tiefgaragen schier verzweifelt.
Fliegender Teppich. Und Sport
Abgesehen von der nun mal vorhandenen Statur (und der Peinlichkeit, dass bei 250 km/h der Begrenzer wie eine Bahnschranke einsetzt) fällt es aber mehr als schwer, dem S 65 AMG irgendwelche Schwächen zu unterstellen. Ganz im Gegenteil ist es eher so, dass dieses Auto einen die meiste Zeit mit ziemlich offenem Mund zurücklässt (wäre es nicht irgendwie komisch, wenn es nicht so wäre?). Beispiel gefällig? Als weltweit erstes Auto verfügt der S 65 über eine Stereokamera, die Fahrbahnunebenheiten frühzeitig erkennt und das Magic-Body-Control-Fahrwerk entsprechend einstellt. So federt der Sport-Koloss unabhängig vom Fahrmodus - erfreulicherweise gibt es nur Comfort oder Sport - wie eine Sänfte auf einer rosa Kuschelwolke. Dabei nimmt er sich aber nicht den Luxus heraus, Gemütlichkeit gegen Präzision einzutauschen. Es ist fast hanebüchen, wie akkurat und dynamisch sich dieser 2,25-Tonnen-Tanker in die Kurve werfen lässt. Vor allem im Sport-Modus, der den Großen spürbar fokussiert, ohne ihn auch nur ansatzweise bockig werden zu lassen.
Driften? Kann passieren
Besonders erheiternd ist die Tatsache, dass der S 65 seine 630 PS und 1.000 Newtonmeter Drehmoment ausschließlich der Hinterachse zur Verfügung stellt. In den meisten Fällen spielt das natürlich keine Rolle, weil er so ausgelegt ist, dass er stoisch und leicht untersteuernd seine Bahnen zieht. Aber der spaßorientierte Oligarch weiß, dass der Hooligan im Maßanzug nur einen ESP-Off-Klick (in Wirklichkeit fummelt man sich durch 347 Untermenüs) oder ein paar Regentropfen entfernt ist. Gerade auf nasser Fahrbahn ist es ziemlich leicht, das Heck und das Lämpchen der Traktionskontrolle in nervöse Zuckungen zu versetzen. Sogar beim Abbiegen reicht ein bisschen zu viel Gas (und glauben Sie mir, bei vierstelligen Drehmomentwerten passiert "ein bisschen zu viel Gas" eigentlich immer), um den Hintern des Schlachtschiffs fröhlich tanzen zu lassen. Ein driftender S 65 AMG muss für Außenstehende zum Schreien komisch aussehen. Zumindest fühlt es sich von innen zum Schreien komisch an.
Königsklasse auch beim Klang
Aber genug von reifenmordenden Einlagen in einschüchternd teuren Fünf-Sterne-Limousinen. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher erstaunlich wenig über den Motor parliert habe? Und das obwohl er der eigentliche Grund für all diesen Wahnsinn ist. Das liegt schlicht daran, dass er mit selten gesehener Vehemenz aber dennoch weitgehend unauffällig seiner Arbeit nachgeht. Der AMG-V8 im S 63 ist ein lauter, ungehobelter Krawallbruder. Das ist ausschließlich positiv gemeint. Der Sechsliter-V12 im S 65 steht über den Dingen. Und das (wirklich jetzt) neuerdings auch mit einer Siebengang-Sportautomatik statt der ollen Fünfgang-Steinzeitbox. Er marschiert einfach. Mit gleichmäßig brachialem Druck. Völlig unabhängig von der Drehzahl. Im Innenraum ist er kaum vernehmbar. Lässt man das Fenster herunter, um zu hören, ob er wirklich da ist, bekommt man als Antwort einen aggressiv fauchenden Schrei, der ein wenig an einen Formel-1-Boliden erinnert. Königsklasse eben. Was soll man auch anderes erwarten?
Sitze mit Namen
Paradoxerweise hat das besondere Fahrerlebnis im S 65 nur am Rande mit seinem mächtigen Zwölfender zu tun. Natürlich streichelt die Empfindung totaler Antriebsüberlegenheit das eigene Ego, aber die eigentliche Seele des Autos steckt woanders. In den Sitzen zum Beispiel, die einen in sechs verschiedenen Programmen massieren. Auf Wunsch auch mit gezielter Wärme auf lädierte Milliardärs-Rücken oder -Schultern. Natürlich kühlen die Sitze auch, wenn man das will. Oder sie blasen in Sekundenbruchteilen ihre Seitenwangen auf, um in sportlich gefahrenen Kurven etwas Ähnliches wie Seitenhalt zu vermitteln. Beim ersten Mal erschrickt man richtig. Dann ist es irgendwie ulkig. Die Sitze in diesem Fahrzeug sind so fähig und liebenswert, dass man schon nach kürzester Zeit eine echte Beziehung aufbaut. Hätte Dieter (so nannte ich meinen Sitz) eine Email-Adresse, ich würde ihn gerne mal zum Essen einladen. Und seine Kollegen im Fond gleich mit, denn auch sie kneten, belüften und mutieren gegen Aufpreis sogar zu einem astreinen, elektrisch ausfahrbaren Reisebett. Hinten drin lümmeln, sich die neuesten Börsenkurse im Fernsehen reinziehen und dabei gekühltes Edel-Blubberwasser schlürfen ist natürlich auch kein Problem.
Wie ein Bub an Weihnachten
Der S 65 AMG schickt seine Insassen auf eine nicht enden wollende Entdeckungsreise. Man fühlt sich wie ein Siebenjähriger an Weihnachten, der immer neue Features an seinem gerade erhaltenen Spielzeug entlarvt. Es gibt einen Lufterfrischer mit beängstigend vielen, sehr erholsamen Aromen. Nicht nur das Lenkrad ist beheizt, sondern auch die Armauflage (!). Und wenn Sie ein wenig Club-Atmosphäre wollen, dann können Sie die indirekte Cockpit-Beleuchtung nach Wunsch changieren lassen. All das passiert in einem Ambiente, das an Material- und Verarbeitungsqualität nun wirklich nicht zu toppen ist. Und dann diese Ruhe, diese himmlische Ruhe. Einmal sägte ein Ferrari 458 mit bis zum Anschlag geöffneten Drosselklappen vorbei. Gewöhnlich sorgt dieses Schauspiel für einen mittelschweren Hörsturz. In diesem Fall habe ich den italienischen Aufmüpfling lediglich gesehen. Gehört habe ich absolut nichts. Dann gab ich Gas und fuhr eine ganze Zeit lang erstaunlich gut mit. Den S 65 als Auto zu bezeichnen, ist eigentlich eine Gemeinheit. "Der schnellste Wellnesstempel der Welt" trifft es bei weitem besser.
Keramik, nein Danke!
Und damit wäre die Daseinsberechtigung der extremsten S-Klasse eigentlich schon geklärt. Die Selberfahrer unter den Luxuslimo-Käufern werden den S 63 bevorzugen und sich beizeiten an seinem ausgeprägten Erholungsprogramm erfreuen. Bei den Käufern eines S 65 dürfte es genau umgekehrt sein. Falls Sie zur zweiten Gattung gehören noch ein kleiner Tipp: Ersparen Sie ihrem Chauffeur die 8.270 Euro teure Keramik-Bremsanlage. Obwohl sie bei Trockenheit mit viel Gefühl und Stärke überzeugt, ist sie an kalten Regentagen eine einzige Katastrophe mit hohem Kraftaufwand und (zumindest im Falle unseres Testwagens) einem seltsamen Rechtsdrall. Abgesehen davon gilt aber: Zurücklehnen und total entspannen. Und bitte auch nicht vom Verbrauch aus der Ruhe bringen lassen. Die 11,9 Liter Durchschnittsverbrauch, die den S 65 laut Mercedes zur "sparsamsten High-Performance-Limousine mit V12-Motor weltweit" machen, können Sie nämlich getrost in der Pfeife rauchen. Wenn Sie aufgrund der 15,3 Liter, die wir bei unseren weitgehend zivil gefahrenen 1.670 Testkilometern im Mittel verbraucht haben, in Rage geraten, dann besitzen Sie aber höchstwahrscheinlich keinen Turm in Abu Dhabi, keine Pipeline in Russland und auch keine 500 Wohnungen in München. Allen anderen sei gesagt: Eine bessere Limousine werden Sie derzeit nicht finden.